Was nimmt wahr?
Lieber Dittmar Kruse,
wie "mache" ich das konkret, damit "sich die Aufmerksamkeit ihrem eigenen Ursprung zuwendet"? Wie komme ich konkret zur "Erkenntnis des einen Bewusstseins"? Wie "erwache" ich und bleibe es auch? Kannst du mir auf diese Fragen eine praktisch-nachvollziehbare Antwort geben? Liebe Grüße!
Danke für deine Fragen!
Du hast “machen” ja schon in Anführungszeichen geschrieben, und das ist auch schon ein Hinweis auf die Antwort, wie sich die Aufmerksamkeit ihrem Ursprung zuwendet: Das geschieht, wenn wir nicht nach etwas “Bestimmtem” suchen, wenn keine Vorstellung erfüllt werden soll, wenn nichts “gemacht” wird, sondern ergebnisoffen geschaut/gefühlt wird. Dann ist da einfach eine wache Offenheit – für die wache Offenheit, die erlebt.
Das klingt vielleicht ein bisschen abstrakt. Konkret kannst du das zum Beispiel mit diesem Experiment untersuchen:
Was nimmt wahr?
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Sag dir ein Wort vor, zum Beispiel: “Bewusstsein” oder “Wachheit” oder “Stille” … – irgendein Wort für “das, was erlebt”. Sprich das Wort aus, dann denke es nur. Das, was dieses Wort hört und den Gedanken wahrnimmt, ist selbst kein Wort, sondern etwas Wortloses.
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Sieh die Farben vor deinen Augen. Mach dir bewusst: Das, was diese Farben sieht, ist keine Farbe.
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Höre die Klänge um dich herum und die “Betriebsgeräusche” im Körper (deinen Atem, vielleicht deinen Puls und vielleicht ein leises Pfeifen oder Summen in den Ohren …). Was diese Klänge hört, ist selbst kein Klang und kein Geräusch.
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Fühle, wie du die Welt berührst (und die Welt dich berührt): den Kontakt mit deiner Kleidung, den Kontakt mit der Luft, die Temperatur … Fühle das Gewicht des Körpers und seine Bewegungen … Achte dann auch auf all diese inneren Gefühle: Emotionen, vielleicht ein Ziehen oder ein Druck oder ein Strömen oder Pulsieren … Du kannst bemerken: Was fühlt, ist selbst keins dieser Gefühle. Wenn du badest oder im Regen stehst, dann fühlst du Nässe, aber nur der Körper wird nass, nicht das Bewusstsein, das die Nässe erlebt – das aber auch nicht trocken ist.
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Wahrscheinlich ahnst du schon, wie es weitergeht: Was Geruch und Geschmack wahrnimmt, hat selbst keinen Geruch und keinen Geschmack.
Das, was erlebt – die Empfänglichkeit fürs Erleben – hat also keine Eigenschaften wie die Sinneseindrücke, die sich in dieser Offenheit zeigen. Dennoch kannst du sie erleben: Ganz eindeutig ist da Empfänglichkeit, Offenheit, Wachheit, Bewusstsein. Das ist keine gedankliche Schlussfolgerung, sondern ganz unmittelbar da: die Offenheit, in der Gedanken auftauchen, genauso wie diese Worte.
Ohne Bewusstsein gäbe es kein Erleben. Was ist dieses Bewusstsein? Mit Gedanken und ihrer Logik kommst du hier nicht weiter. Weder mit: “Na klar, da muss ja etwas sein, das erlebt!” noch mit: “Das Auge kann sich selbst nicht sehen, also kann das Bewusstsein sich selbst auch nicht erleben, zum Erleben gehören ja immer zwei!” oder sonstigen Überlegungen. Lass dich nicht mit Gedanken abspeisen, auch wenn sie wahrscheinlich kommen und Vorschläge machen.
Bewusstsein ist kein Objekt, das du finden kannst, und keine Richtung, in die du schauen kannst; es ist nichts, das du ableiten oder erfinden kannst, keine Erinnerung und kein Konzept, das du abrufen kannst. Was geschieht, wenn das Bewusstsein auf sich selbst achtet? Was ist wach?
Das Erkennen ist ganz eindeutig und zweifelsfrei, und es ist begleitet von einer großen Freude: der Freude des Findens und Gefunden-Werdens. Es fühlt sich wirklich an wie ein Erwachen aus Träumen, eine große Befreiung, Erleichterung, Klarheit, Liebe. Ein Einssein in allem, das das Einssein in allem liebt.
Solche Beschreibungen wecken schnell wieder Vorstellungen, was da gefunden werden könnte oder wie das Finden sich anfühlen sollte – auf Kosten der Unvoreingenommenheit und Ergebnisoffenheit, von der ich eingangs gesprochen habe. Ich habe sie dir trotzdem geschrieben, als Antwort auf deine weitere Frage: Wie “erwache” ich und bleibe es auch? Wenn du das findest, was du liebst, wofür würdest du es eintauschen? Wozu würdest du dich davon ablenken?
So, ich hoffe, das war praktisch-nachvollziehbar.
Du kannst mir gerne wieder schreiben, ich freue mich!
Hallo Dittmar, vielen Dank für deine Antwort. Ich freue mich sehr darüber! Gerne nehme ich dein Angebot an, dir schreiben zu dürfen. Aber keine Sorge, es wird vermutlich bei diesem einen Mal bleiben. Ich möchte deine Freundlichkeit nicht über Gebühr nutzen. Ich kann sehr gut mit folgenden Deiner Aussagen mitgehen: „Wenn wir ergebnisoffen schauen / fühlen / erleben / riechen etc. kann eine wache Offenheit wahrgenommen werden, die erlebt … Das, was erlebt – die Empfänglichkeit fürs Erleben – hat keine Eigenschaften.“
Dies geschieht – so würde ich das nennen – durch „Selbstaufmerksamkeit“, die Aufmerksamkeit auf das Selbst/Bewusstsein zu richten; d.h. das Bewusstsein wird sich seiner selbst gewahr. Leider kann ich jedoch folgende Erfahrung nicht mit dir teilen, wenn Du schreibst: „Dieses Erkennen ist begleitet von einer großen Freude: der Freude des Findens und Gefunden-Werdens. Es fühlt sich wirklich an wie ein Erwachen aus Träumen, eine große Befreiung, Erleichterung, Klarheit, Liebe. Ein Einssein in allem, dass das Einssein in allem liebt“.
Ich erlebe dieses Erkennen leider als etwas Kühles, Unpersönliches, nichts „Besonderes“. Wenn ich diese „Freude des Findens und Gefunden-Werdens“ erleben würde, würde ich natürlich das Gefundene nicht eintauschen wollen und mich somit nicht davon ablenken lassen. Somit komme ich zu folgender Frage an Dich: Wie bitte komme ich zu dieser „Freude des Findens und Gefunden-Werdens“? Ich übe mich seit Jahren im „Bewusst bewusst zu sein“ ein (Rupert Spira, Felix Gronau, Mooji, Ramana Maharshi). Diese „Freude“ habe ich bis jetzt leider noch nicht wahrgenommen. Was bitte kann ich „tun“ bzw. soll ich lassen?
So ist das mit den Beschreibungen: Sie sind immer unvollständig und daher auch schnell mal irreführend. Die Kühle, die du beschreibst, das “Nichts Besonderes” – ich vermute, dass du da von einer gewissen Distanz zum Erleben sprichst. Einer Beobachter-Position, die eingenommen werden kann und oft auch gefördert wird durch solche “Nicht dies, nicht das”-Beschreibungen wie in dem Experiment, das ich dir vorgeschlagen habe. Dann scheint es, als wäre das Bewusstsein getrennt von seinen Ausdrucksformen oder als wären die Formen nichts Lebendiges, sondern nur leere Hüllen oder nur Schein.
In dieser Getrenntheit von seinen Inhalten scheint dann auch das Bewusstsein selbst an Lebendigkeit und “Wärme” zu verlieren. Das Bewusstsein oder die Wachheit ist frei von Inhalten, aber nicht getrennt davon. Ohne diese künstliche = mentale Trennung ist das eine Bewusstsein in allen Erscheinungen wahrnehmbar.
Besonders deutlich ist dieses Einssein für mich (oder für “diesen Organismus”) im Zusammensein mit anderen Lebewesen: das Einssein von Bewusstsein, Erleben und Erlebtem, und das Einssein der Lebendigkeit in den Organismen. Das liebe ich, und das fühlt sich “warm” an.
Um es auf eine andere Art missverständlich zu beschreiben, erlebe ich das Zusammenspiel von Stille und “Action” in wechselnden Misch-Verhältnissen: Manchmal ist viel Aufmerksamkeit bei der Stille, die erlebt, und manchmal viel bei dem, was erlebt wird: den Sinneseindrücken. Keins von beiden verschwindet jemals ganz, außer im Tiefschlaf, in dem es keine Sinneseindrücke gibt, davon habe ich aber keine Aufzeichnungen.
Ich bin hier ja bisschen am Raten, was es ist, das für dich keine Freude aufkommen lässt. Vielleicht hat es auch zu tun mit dem “Lenken der Aufmerksamkeit” aus dem Wunsch heraus, einen Zustand erreichen zu wollen. Ich bin sicher, dass du aus eigener Erfahrung Momente kennst, wo du einfach losgelassen hast, dich überlassen hast, das Leben frei gelassen hast: “Dein Wille geschehe.”
Anders gesagt: Du kennst Freude, du kennst Klarheit und Liebe. Daher kennst du auch dieses Loslassen. Vielleicht hat sich das auf einen Menschen bezogen oder auf sonst eine Gegebenheit “da draußen”; das kann davon ablenken, was “innen” geschieht: das Fallenlassen von Bedingungen und Vorgaben, die sich im Erleben manifestieren sollen, die Freiheit von Ergebnissen.
Dann kann sich die Freude am Erleben und am Leben selbst zeigen, die sich auch in eine Kühle einfühlen kann und sie erwärmt (sich für sie erwärmt), weil sie es liebt, bedingungslos zu erleben. Weil sie für diese Kühle da ist wie eine Mutter für ihr Kind. Weil sie nichts anderes braucht, wird sie als Zuhause alles Erlebens gefühlt, als Inhalt aller Bewusstseinsinhalte.
So wird auch “derjenige”, der die Aufmerksamkeit lenkt oder etwas tut oder lässt, erkannt: Er ist nichts mehr als ein liebevoller Wunsch nach einem schönen Erleben. Das Erleben ist schön, wenn die Liebe in diesem Wunsch gefühlt wird, ohne sie von den Vorstellungen abhängig zu machen, wie sie verwirklicht werden könnte/sollte. Ohne solche Kriterien verliert auch der abgleichende Kommentar seine Autorität (oder er verstummt ganz), der das Erleben als “zu x / zu wenig y” beschreibt – oder als sonst etwas beschreibt und es damit als “etwas” erscheinen lässt.
Die große Freude ist, Liebe zu fühlen. Liebe ist für das da, was da ist. Was da ist, ist Wachheit. Wachheit für die Wachheit, Wachheit für die Erscheinungen, hier und jetzt. Meine neue Empfehlung ist also zu fragen: “Was ist jetzt?” … und die Versuche, sie zu beantworten oder die Vorstellungen, die dann vielleicht auftauchen, einfach als Aspekte des Jetzt-Erlebens zu erkennen, als etwas, das auftaucht, aber nicht die Antwort bestimmt.
Wenn du wirklich wissen willst, was jetzt ist, egal wie es sich zeigt, dann schenkst du ihm volle Aufmerksamkeit. Dieses Schenken ist das Geschenk. Du schenkst dem Jetzt alles was du hast und alles was du bist. Nicht als Strategie oder als Übung, sondern weil du es liebst zu schenken und weil du es liebst, beschenkt zu werden. Beschenkt werden ist nicht etwas Bestelltes bekommen, sondern es hat etwas Unerwartetes, Warmes, Liebevolles.