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Vom Schicksal gezeichnet

Lieber Dittmar,

zuerst einmal vielen Dank für die Möglichkeit, auch als Abwesende (von Deinen Kursen oder Gesprächskreisen) Gast bei Dir sein zu dürfen – ich schaue und höre mir jedes Video an, lese die Beiträge …

Bei den Videos fällt mir auf, dass alle einer Meinung zu sein scheinen, jeder und jede ergänzt bzw. bestätigt den Anderen. Die Gespräche sind einstimmig …

Natürlich fällt mir auch anderes auf: Die Themen z.B. sind einfach spannend, bereichernd und anregend. Danke.

So gern ich Gespräche über Nondualität anhöre, so gern ich Bücher darüber lese, so ungern spreche ich mit anderen Menschen darüber. Manchmal gelingt es mir, in meinen Yogaunterricht etwas einzuflechten. Es gelingt mir dann, wenn ich spüre, dass ich was verinnerlicht habe, dass ein Samen aufgegangen ist, dass etwas abrufbar ist.

Neulich bin ich einer Bekannten begegnet. Sie erzählte mir folgendes: Sie kam vom Einkaufen nach Hause, da standen mehrere Polizeiautos im Hof. Ihr Ehemann wurde gerade abgeführt. Anklage wegen Pädophilie in xxx Fällen, Kinder­porno­graphie … Für die Frau brach die Welt zusammen.

Ich könnte dieser Frau niemals sagen: “Weißt du, du bist kein getrenntes Wesen und dein Mann auch nicht. Wir sind alle ein Baum und erscheinen als Ast. 1als 2 eben.”

Ich konnte das Entsetzen der Frau, die nicht die leiseste Ahnung vom Treiben ihres Mannes hatte, gut nachempfinden, auch die Wut, die Verzweiflung und die Trauer über die zerbrochene Liebe. Trösten konnte ich sie nicht. Ich hab ihr gesagt, dass man auch mit einem Total­schaden weiter leben kann. Das weiß ich aus eigener Erfahrung.

Ich fände es grauenhaft zu sagen: Wer weiß, vielleicht findest du in ein paar Jahren, dass es gut war, dass alles so gekommen ist. Ebenso grauenhaft fände ich es zu sagen: Ach, das sind alles nur Gedanken, die kommen und gehen und diese Gedanken spielen sich manchmal auf als Richter, Moralist, usw.

Ich frage mich, wie ich manchmal in das scheinbar Unlösbare, das Schwere oder Unerträgliche ein wenig Leichtigkeit bringen könnte. Bei mir und bei anderen.

Natürlich ist es wunderbar, wenn man im Augenblick sein und ihn mit allen Sinnen wahrnehmen kann, aber die Aufmerksamkeit wird nun mal eingeschränkt, wenn man von Dämonen bedroht wird.

Ich habe nie das Gefühl, ich müsste der Außenwelt etwas abringen, um vollständiger zu werden. Aber ich hätte gern ein ruhigeres Leben, das mir weniger Schrecken einjagt.

Lieber Dittmar, das wollte ich los werden, denn mir scheint, die Methode “Nondualität” ist eben auch nur eine Methode – natürlich eine gute und sinnliche. Sie taugt für Menschen, die mal einen kleinen Dämpfer bekommen haben, oder für diejenigen, die ein leichtes, glückliches Leben führen dürfen, nicht aber für jene, die gezeichnet sind vom Schicksal.

Was meinst Du?

Ich grüße dich herzlich!

Liebe …,

danke für deine Mail und dein Feedback!


Hier ein paar Punkte dazu:

• “Dämonen”: Diese Dämonen, die da drohen, sind Gedanken, die immer wieder kreisen. Gedanken, die sich voller Reue und Trauer auf die Vergangenheit beziehen und voller Angst auf die Zukunft.
Die Ähnlichkeit zu Dämonen liegt in der gefühlten Besessen­heit von diesen Gedanken, die keine Ruhe geben.
Aufmerksamkeit für die Gegenwart kann diese Besessenheit heilen. Daher ist “Achtsamkeit” essentieller Bestandteil in der Arbeit mit traumatisierten Menschen.
Das Vertrauen in den gegenwärtigen Moment hilft, die Gedanken an die Vergangenheit loszu­lassen und stärkt das Vertrauen, dass die Zukunft ebenso “tragen” wird wie die Gegenwart.

• “Gezeichnet vom Schicksal”: Ich habe wirklich noch nichts besonders Schlimmes erlebt (halt die üblichen vorübergehenden Unfälle, Trennungen, Schmerzen, Krisen usw.). Ich kenne aber genug Menschen, die wirklich trauma­tische Erfah­rungen hatten, zum Beispiel den genannten Kindes­miss­brauch vom Klein­kind­alter an, Vergewal­tigung, Tod eines Kindes oder Quer­schnitt­lähmung … und die glücklich sind, frei von Dämonen. Die Liebe und Frieden und Freiheit in sich fühlen und ausstrahlen. Nicht weil sie das Erlebte verdrängt haben oder sich schön­reden oder “nicht so schlimm fanden”.
Da ist etwas, das ganz unabhängig von allen Umständen und Erschei­nungen ist, etwas, das heil bleibt. “Total­schaden” betrifft z.B. das Auto, das Haus, die Ehe … DU bist kein Total­schaden. Da ist etwas, das heil bleibt, offen und durchlässig.
Da ist immer noch Liebe.
Der Organismus kann sich mit all seinem Schmerz und seiner Trauer an diese unver­gäng­liche Liebe wenden (die er sich z.B. vom Partner erhofft hatte), und es kann diese liebevolle Zuwendung zu allem Schmerz und aller Trauer geben. Dazu kann thera­peutische Begleitung wichtig sein, die hilft, alle Gefühle, die da sind, zu erlauben. Und damit der Vergan­genheit erlaubt, vergangen zu sein.

• “Gut finden”: Die Situation deiner Bekannten “gut” zu nennen ist natürlich auch nur eine Bewertung, genau wie “schlecht”. Aber eines Tages ist sie vielleicht froh, dass das Doppel­leben aufgeflogen ist und sie nicht in der Lüge oder Illusion weitergelebt hat.
Das Zusammenbrechen einer Schein­welt kann sehr schmerzhaft und enttäu­schend sein und eine ungeahnte Freiheit von den bisherigen Umständen und Illusionen mit sich bringen.
Das Scheitern eines Lebensplans kann den Hochmut entthronen, das Leben sollte sich nach seinen Vor­stellungen richten und seine Bedin­gungen erfüllen. Dann ist da Demut, sich dem Moment zu öffnen, so wie er sich zeigt; Demut, die heilt und befreit.

• “Methode”: Einem Menschen in einer akuten Notlage belehren und eine Philo­sophie aufdrücken zu wollen fände ich auch respektlos und arrogant – oder “grauenhaft”, wie du es nennst.
Nondualität ist keine Methode, ist weder “Reframing” noch “Positives Denken” oder “Schönreden”. Sondern entweder eine Philosophie (dann ist es eine von vielen, so wie Stoizismus, Fatalismus …): eine gedankliche Ein­ord­nung, die ich nicht besonders interessant finde – oder ein Sehen (und Beschreiben) der Einheit hinter den Erschei­nungen, die ich liebe und als das einzig wirklich Interessante empfinde.

• “Meinung”: Meistens sind unsere Gespräche “einstimmig”, wie du es nennst. Das kommt aber nicht durch Bestärken derselben Meinung, sondern im Zusammensein kann das Eins­sein deutlich fühlbar und im eigenen momentanen Erleben erkannt werden.

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